CHRISTIAN SCHÜLE

Lob der Sachdienlichkeit

In Anflügen schwer begreiflicher Arroganz sprechen Journalisten, Schriftsteller, öffentliche Intellektuelle, Politmoderatoren und Teile der Social-Media-Meute den deutschen Kanzlerkandidaten kurzerhand jegliches Charisma ab, nennen die Sondierer “schrecklich nett” und zeihen sie spießiger Langeweiligkeit. Der niederschwelligen Diffamierung derer, die  mühsam versuchen, eine Regierung zustandezubringen, entspricht offenbar eine zugleich mystisch überhöhte Sehnsucht nach metapolitischem Pathos. Versteht man unter Charisma nicht nur – im Sinne seiner eigentlichen Bedeutung – die göttliche Gnadengabe zur Erleuchtung, sondern das Bedürfnis nach Emotionalität und Entertainment einer Führungsfigur, wird die Forderung nach charismatischer Aura als Merkmal für Kanzlerkompetenz vollends unverständlich – all das übrigens in einem Land, dessen Gesellschaft reichlich moralischen Eifer, aber erstaunlich wenig Talent für Ironie und Satire hat. Abgesehen davon wissen wir aus der Geschichte allzu gut, wohin unsteuerbares Charisma führen kann.

Zeitgleich versorgen die Strategen, Berater und Spindoktoren die Medienöffentlichkeit mit dem Gerede von „Storytelling“, allerorten wird jetzt eine „Erzählung“ gefordert, die jetzt zu erfinden sei, immerzu ist von einem „Narrativ“ die Rede, das eine Koalition oder Partei jetzt zu stanzen habe. Was soll das? Was ist das für eine Auffassung von Politik? Ist Storytelling nicht genau die problematische Vorbereitung des Ungefähren und Uneigentlichen, da es nur noch auf die emotionale Stimmigkeit der „Geschichte“ ankommt, nicht aber auf argumentative Logik, auf Präzision und Faktentreue? Jede STory zerschellt sofort an einer realpolitischen Krise; und wenn eines Politik kennzeichet, dann die Notwendigkeit der permanenten Bewältigung von Krisen, die man nicht vorausberechnen kann.

Gerade in Zeiten, da Fakenews von Fakten kaum noch zu unterscheiden sind, da Verschwörungsfantasien im Schafspelz absoluter Wahrheitsansprüche daherkommen und Manipulation wie Agitation die Tagesordnung formatieren, ist stocknüchterne Sachdienlichkeit von enormem Wert für Gesellschaft, Republik und Politik. Pardon, aber das Kerngeschäft des Politischen ist Überzeugen und Problemlösen, nicht Schwätzen und Chambrieren. Demokratie heißt bekanntlich: Bohren dicker Bretter, heißt: Kunst des Kompromisses, heißt: Beherrschung von Maß und Mitte. Heißt: Aushandlung, Verhandlung, Synthesefähigkeit. All das ist völlig ungeeignet für Charismatiker, die sich auf die Wirkung ihrer Gnadengabe verlassen und gerne von sich selbst geblendet sind. Zum Glück haben wir weder Clowns noch Politdarsteller vom Schlage eines Witze erzählenden Boris Johnson, geschweige denn eine Art Donald Trump, dem langjährige Beobachter und Korrespondenten durchaus Charisma unterstellen, in dem sich der Weltgeist aber doch so grotesk geirrt hat. Idealcharismatiker wie Kennedy oder Barack Obama sind nur im Wahlsystem wie dem der USA möglich, und ein unter der Hymne ‚Freude schöner Götterfunken‘ in schwülstigem Pathos erhaben schreitender Präsident Emanuel Macron wirkt im Anspruch auf inszenierte Grandiosität seltsam peinlich. Seien wir mal rechtschaffenfroh über unsere Kanzlerkandidaten und Sondierer und über eine selte gewordene Form von Zivilisiertheit und Fairness im Umgang miteinander.
Wir, die über die Jahre selbstbewusst gewordenen Bürgerinnen und Bürger, wollen Führung und verachten zugleich jene, die führen wollen. Wir fordern Gestaltung und misstrauen denen, die es versuchen. Wir, die sozialmedial zugerüstete Bürgerinnen und Bürger, stellen maximale Forderungen an Politik, die in sich paradox und keineswegs zu erfüllen sind: charismatische und demütige Führung,  Bescheidenheit und Selbstbewusstsein zugleich. Wir, die wir fordern, uns zurücklehnen und dann richten, erwarten, dass der nächste Kanzler die Welt verbessern, das Klima retten, globale wie nationale Gerechtigkeit organisieren, allen beste Perspektiven bieten und fehlerfrei, unermüdlich und selbstlos agieren soll, dass er visionär sein aber bitte nicht zu viel sein soll – und alles bitte sofort und zum Vorteil für jeden und ohne Kompromisse. Und wehe es klappt nicht!

Jede Zeit hat ihren Geist. Der globale Geist der Zeit ist Nachhaltigkeit. Wer Nachhaltigkeit groß schreibt, muss nachhaltig denken und braucht nachhaltig denkende und agierende Politiker. Nachhaltigkeit ist immer unsexy und spröde. Und dennoch ist Sprödheit Pomp und Pathos überlegen. Die Attraktivität des Systems braucht geradezu den Langmut individueller Personen. Der zeitgenössische Geist steht nicht mehr auf Aggression, Rechthaberei, Selbstgefälligkeit und Geprotze. Hoch im Kurs stehen Tugenden wie Besonnenheit, Um- Nach- und Rücksicht. Der ganzen, teils künstlich erzeugten Aufgeregtheit einer Erregokratie, die sich ständig selbst überschreiten muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden, die permanent Sättigungseffekte und Erschöpfungszustände zugleich produziert, dieser Öffentlichkeit Ruhe und unaufgeregte Sachlichkeit entgegenzusetzen, ist im besten Sinne staatsklug.
Gewiss hat Angela Merkel bezüglich protestantischer Sprödheit legendäre Maßstäbe gesetzt. Sie war anticharismatisch bis zur Schmerzgrenze, aber ihre skandalfreie geradezu protestantisch-pastorale Integrität hatte es aber gar nicht nötig, zu missionieren und zu attackieren. In einer Zeit eines infantilisierten Shitstorm-Schwachsinn war und ist diese Form der Zivilisiertheit ein hoher Wert an sich.

Eine dramaturgisch erhitzte und in ihrer Überdrehtheit dauerhaft ermüdete Gesellschaft braucht empathische Kühle. Sie braucht Leute, die sich nicht der Twitter- und Instagram- Community mit ihrer gestörten Affektkontrolle und der Mitteilungs- und Meinungs-Diarrhöe unter Druck setzen und aus dem Konzept bringen lassen. Helmut Schmidts Offiziers-Schneidigkeit und Willy Brandts humanistisch umflorte Melancholie würde in der gnadenlosen Shitstorm-Kultur unserer Tage keine zehn Minuten überleben.

Charisma übertüncht, wo langfristige Versöhnungsarbeit zu leisten ist. Charisma nimmt dort die Abkürzung über Emotionalität, wo Problemlösung erst anfängt und die Komplexität der Sache Durchdringung und Dialektik erfordert. Das ist kein Plädoyer für die fließbandartige Reproduktion in sich geschlossener Floskeln, aber sehr wohl ein Plädoyer für Stocknüchternehit und Sachdientlichkeit in besoffenen Zeiten. Sachdienlichkeit vermittelt die Sicherheit, dass da einer nicht nur weiß, was er tut, sondern auch wie er es tun muss. Langweiligkeit, also die Fähigkeit zur langen Weile, ist eine besondere politische Gabe zu Geduld und Gelassenheit.

Nein, wir brauchen keine Story. Wir brauchen auch keine Narrative. Wir brauchen kluge Ansprache an die Menschen, Vorbildverhalten. Die Probleme sind bekannt und liegen für jeden sichtbar auf dem Tisch: Energieversorgung, Bildung, Klima, Transformation, Demografiedefizit, Migration, Europa. Die Bürgerinnen und Bürger sind klug genug zu wissen, wie wenig sich eine hochkomplexe und ausdifferenzierte Wirklichkeit auf eine simple Sprachschablone reduzieren lässt. Wer Plots braucht, soll Krimis lesen.
Die Helden des Minimalismus, die Könner der inszenierten Zurücknahme, entwickeln gerade eine ganz andere Aura: die Aura der unbestechlichen Allgemeinvernunft. Wir brauchen keine Charismatiker, sondern noble Sprödheit in einer Lebenswelt, die schon irrational genug ist. Die Chancen für rechtschaffene Langweiligkeit stehen gut.

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