CHRISTIAN SCHÜLE

Unser neuer Moralismus

Zwei machtvolle Bewegungen bedrohen derzeit die liberale Demokratie: die Umwertung der Werte von rechts außen und die Politisierung der Scham im Namen der Weltverbesserung. Ersteres gilt als das absolut Böse und wird allerorten exzessiv beschrieben. Zweiteres gilt als das scheinbar Gute und wird fatalerweise nicht als Katalysator jener Spaltungen gesehen, die die Gesamtgesellschaft zunehmend fragmentieren. Beide nicht miteinander vergleichbare Bewegungen sind Resultate einer ideologiegetriebenen Radikalisierung im Namen einer höheren Moral. Da diesertage Feindbilder am laufenden Band produziert werden – Populisten, Rassisten, Sexisten; Klimakiller, Tiertöter, Fleischfresser; Kreuzfahrttouristen, Superreiche, Konsumkapitalisten – sickert durch die Hintertür der kostenfreien Moralisierung etwas sehr Gefährliches in den Humus der Republik und vergiftet peu à peu ihr soziales Klima: eine puritanische Moral der Askese, die über Verbot und Verzicht zu gefälligem Verhalten erziehen will.In einer Zeit, da auf einmal alle Klimaretter und Weltverbesserer sein wollen, hat das Geschäftsmodell der Moralisten – ebenso wie das (der ganz anders gearteten) Rechtsautoritären – quasireligiöse Züge von Errettung und Erlösung und trägt zur Dauer-Erregung einer hysteriebereiten Mediokratie bei.

Wer sich falsch verhält, wird als schuldig an den Pranger gestellt. Wer seinen Lebensstil nicht ändert – jetzt, sofort und absolut – soll sich schämen. Flugscham. Fleisch-Scham. Konsum-Scham. Klassenscham. Elitenscham. Alter-weißer-Mann-Scham. Wer sich dem Scham-Streaming nicht unterordnet, versündigt sich: am Wahren, Richtigen und natürlich Guten, das deshalb gut ist, weil Meinungsmacher, Influencer oder Lobbies es für gut befinden und sich damit durchsetzen. Mit kräftiger Neigung zur Maßregelung wird das Umwelt- und Sozialverhalten des Mitbürgers tendenziell maßlos daraufhin abgescannt, ob er korrekt lebt. Blockwarte tauchen auf, Gesinnungs-Inspekteure, Tugendwächter; auf allen Seiten gibt es mittlerweile Denunziations-Aktivitäten und -portale.

Die Agenda des missionarischen Moralismus richtet sich zunehmend gegen die doch immer so triumphal gefeierte Freiheit der Wahl. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sind ebenso gefährdet wie die Freiheit des Individuums zum eigenverantwortlichen Selbstentwurf. Wissenschaftler werden attackiert, wenn sie „falsche“ Frage- und Themenstellungen aufwerfen. Maler werden von Jahresausstellungen ausgeladen, weil man ihnen die Nähe zum Rechtspopulismus unterstellt. Prüf-Instanzen fühlen sich berufen, mittels „Sensivity-Reading“ Texte daraufhin zu screenen, ob sich durch Wörter oder Sätze irgendjemand als Opfer fühlen könnte. Und immer öfter taucht bezüglich Kunst und Gesellschaft die Frage auf, was gedurft wird. Darf man Frauen nackt malen? Darf man mit People of Color Werbung machen? Dürfen polarisierende Politiker an einer Rundfunkdebatte über: politische Polarisierung teilnehmen?

Das Dürfen bringt ein Machtverhältnis zum Ausdruck: jemand gewährt, der andere gehorcht. Aber wer erlaubt da wem was mit welcher Legitimation? Die zu Recht so hoch gehaltene Pluralität und Diversität der unterschiedlichsten Lebensentwürfe und ihr Prinzip ‚Jeder lebe und entscheide nach seiner Fasson’ wird nun an Bedingungen geknüpft. Der Belehrungseifer schreibt dem Individuum den erwünschten Lebensstil vor und definiert, was Lebensstandard sein soll. Die Freiheit des Andersdenkenden und Andersglaubenden ist offenbar nur dann von Wert, wenn dieses Andere im Sinne des erklärten Guten das Richtige ist. Nach erfolgter Gesinnungsprüfung senkt oder hebt ein anonymes moralisches Zentralkomitee daraufhin den paternalistischen Daumen.

Das hat autoritative, fast autoritäre Züge. Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnte letztlich Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. So würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden.

Nicht die Demokratie als solche ist in Gefahr, sondern die liberale Demokratie: die auf Aushandlung, Ambivalenz, Eigenverantwortung, Pluralität und Prozess basierende beste und auch anspruchsvollste Gesellschaftsordnung, die es gibt.

Die zweifelsohne epochalen Probleme der Klimaveränderung, des Demografiewandels und der Friedenssicherung müssen Staaten, Regierungen und Institutionen lösen, mit Verhandlungen, Verträgen, Anreizen und überzeugenden Ideen. Aktivismus mag Aufsehen erregen, ja, aber die Tugend der Mäßigung, die Fähigkeit zu Kompromiss und Pragmatismus ist nötiger und wichtiger als Hybris, Anmaßung und Anklage. Und was die Welt im konkreten rettet, ist immer noch: stilles und vor allem nachhaltiges Engagement.

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